Das dreckige Dutzend: 12 Jahre Distillery
Ein Interview mit dem Tille-Chef Steffen Kache
Steffen Kache kann man inzwischen getrost als "Nachtleben-Dinosaurier" bezeichnen. Zwölf Jahre leitet er nun schon die Distillery - zwölf Jahre, das ist im Clubleben nach wie vor eine halbe Ewigkeit. So verwundert es auch nicht, dass die Tille nach dem Tresor der zweitälteste Club in Ostdeutschland überhaupt ist. Interessant ist dabei, wie beide Clubs zusammenhängen: "Anfang der Neunziger waren wir einfach so eine Feierclique, die in der Disse zum ersten Mal mit Techno in Berührung kam, damals mit Marusha und Westbam im Lollipop. Dann fuhren wir nach Berlin, u.a. in den Tresor, und haben dort gesehen, was möglich war. Danach stand fest: Ein eigener Club muss her."
Dabei hatte Steffen nie vor, einen Club zu machen. Stattdessen besuchte er in seiner Jugend eine naturwissenschaftliche Schule, sollte eigentlich in die intellektuelle Elite der DDR vorstoßen, hätte es nicht die Wende gegeben. Danach absolvierte er seinen Zivildienst beim Öko-Löwen in Leipzig und das politische Interesse erwachte in ihm. Doch wie es eben so ist: Erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt. Denn als die gut ein Dutzend zählende Truppe im Herbst ’92 ein erstes Mal die Türen zu einem ehemaligen Brauereigebäude (daher rührt auch der Name) öffnete, war noch keinem klar, dass diese Unternehmung länger als ein Jahrzehnt überdauern würde. Die erste Distillery war kein legaler Laden - man stellte einfach eine Anlage rein und fertig. Zweieinhalb Jahre durfte man dort ungestört feiern - „bis uns die Stadt quasi die Türen zumauerte. Seit 1995 sind wir nun in der heutigen Location.“ Was aber keineswegs Stillstand bedeutet: Die Distillery ist einem ständigen Wandel unterworfen. Nicht nur musikalisch, sondern auch äußerlich - „Jeden Sommer wird umgebaut.“ Anfangs war zum Beispiel der Keller der Mainfloor. ’99 wurde mit dem Umbau der obere Floor vergrößert und so ist er es heute, der meist im Mittelpunkt des Interesses steht. Der Keller wurde seitdem gleich mehrmals umgestaltet.
Wer ist hier der Boss?
Während der vergangenen Jahre hat sich aber auch intern eine Menge verändert: Mit der Wiederbelebung des Fridayclubs (Veranstaltungen am Freitag bewegen sich meist im weiten Feld der gebrochenen Beats) vor drei Jahren erhielt das Fremdveranstalter-Konzept wieder Einzug. So verschob sich Steffens Priorität zunehmend vom Booking auf das außermusikalische Management. Denn der "Schlingerkurs 2002/2003" hinterließ merklich Spuren: Immer weniger Besucher, ständig nörgelnde Stammgäste. Die Krise jener Zeit rührte allerdings auch daher, dass Meister Kache seit dem Jahr 2000 alleiniger Chef der Distillery ist. Ursprünglich hatte ein Viererteam den Club geleitet. Als sich die anderen immer mehr zurückzogen, stürzte auf Steffen eine Unmenge an Behörden-, Sponsoren- und sonstiger Arbeit ein, wobei das Booking immer mehr vernachlässigt wurde und merklich einseitiger geriet. Heute überlässt Steffen diese Aufgabe zum großen Teil anderen, "die einfach tiefer drin stecken. Mir fehlt selbst einfach die Zeit fürs Musikalische. Lieber arbeite ich da mit festen Crews, die viele Soundrichtungen abdecken." So bleibt ihm auch mehr Zeit für andere Sachen: "Ich möchte mich gesellschaftlich mehr einbringen, zum Beispiel in der Kommunalpolitik." Und wohin soll sich die Tille in Zukunft entwickeln? "Ich will die Tille in einen größeren subkulturellen Kontext stellen, Netzwerke entwickeln." Der stilistische Spielraum soll erweitert werden, aber Steffen versichert: "Musikalisch will ich beim Elektronischen bleiben." Bereits dieses Jahr begann man beispielsweise damit, auch unterhalb der Woche Veranstaltungen ins Programm zu nehmen, die am Wochenende nicht ins Programm gepasst hätten.
Banane
Einen nicht unerheblichen Anteil am Mythos Distillery (der sich zum Teil bis heute hält) hat sicherlich auch deren Türpolitik. Einst war Banane der gefürchtetste Türsteher der Stadt (heute macht er nur noch zu Ausnahmeabenden die Tür) - nicht aufgrund seiner Statur, sondern vor allem wegen seines Urteils. "Gesichtskontrolle" oder "Willkür" nannten das die, die draußen bleiben mussten. Für die Tille aber war es in den Neunzigern Teil der Philosophie: "Wir waren eben der einzigste Laden, es war immer voll. Wir konnten uns das einfach leisten." Heute sieht der Chef die Sache etwas anders: "Der Nachteil daran ist ja immer, dass du Unbekannte nur nach ihrem Äußeren beurteilst. So kann es sein, dass du drinnen Leute hast, denen die Musik total egal ist, während die Kenner vielleicht draußen bleiben. Heute verfolgen wir das Ziel, keine Elite zu schaffen, sondern lediglich potentielle Stressmacher fernzuhalten."
Zukunft?
Wenn man sich die Geschichte der Distillery anschaut, dann fällt auf, dass es fast keine musikalische Größe mehr gibt, die noch nicht zu Gast war. Aber ist es das, was die Tille so besonders macht? "Es ist die Offenheit, die musikalische Neugier, aber auch die Risikobereitschaft. Und in unserem Laden ist mehr Veränderung als in anderen, auch wenn sie nicht immer unbedingt für alle sichtbar ist." Zudem legt Steffen bei aller fortwährenden Weiterentwicklung umso mehr Wert auf Kontinuität, was seine Mitarbeiter angeht: "Es muss einfach passen. Denn Club- und Privatleben hängen bei mir zwangsläufig zusammen."
Besonders wichtig war der Distillery auch stets die Message, die man nach Steffens Meinung zwar nur sehr subtil rüberbringen kann, die aber für ihn nach wie vor eine wichtige Rolle spielt: "Unser Ziel ist es, Leute zu öffnen, zu interessieren, zu ermuntern, neue Wege zu gehen. Wir wollen ein Lebensgefühl rüberbringen, bei dem ständige Weiterentwicklung das wichtigste ist." Insofern also beste Voraussetzungen für ein weiteres Dutzend Clubjahre.
Das Interview führte Steffen Bennemann.