Es hätte mir genauso
- Genre
- Roman
- Autor
- Ali Smith
- Verlag
- Luchterhand
- Erscheinungsdatum
- 22.10.2012
- Erscheinungsform
- Gebundenes Buch, Schutzumschlag: 320 Seiten
Bewertung
Thomas Treichel, Feb 20134.5 / 5 Sternen
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Was zu viel ist, ist zuviel ... So vielleicht das Motto. Eine Dinnerparty. Engländer der oberen Mittelklasse, finanziell - nicht kulturell, laden ein. Zu einer Art Panoptikum. Es wird doch tatsächlich eine schwarze Familie eingeladen und sogar ein Schwuler! Denn man ist natürlich ach wie multi-kulti-regenbogenglücklich und will seinen Arbeitskollegen am nächsten Tage berichten können: „Also bei unserem Dinner da meinte ein Freund von mir, übrigens ein Schwarzer, zu einem anderen Freund, der, du wirst es nicht glauben, ein Homo ist, ...“
Letzterer nun bringt überraschend noch jemanden mit. Doch es ist nicht dessen Partner. Sehr zur Betrübnis der Gastgeber, dass wäre ja noch viel morbider gewesen! Nein, dieser ist jenem selber noch nicht lange bekannt. So weiß der Ursprungsgast auch nicht recht Rat zu erteilen, als etwas sehr Merkwürdiges geschieht. Jener mitgebrachte Mann, Miles Garth, steht nach einem unerträglichen Gespräch (das der Leser mit ihm humorvoll nimmt), vom Tisch auf, geht hoch, scheinbar zur Toilette stattdessen jedoch ins Gästezimmer, schließt sich dort ein, weigert sich herauszukommen. Warum dies???
Das gilt es herauszufinden! Also weiterlesen. Jener der Mr. Garth zum Essen mitbrachte heißt Mark, wir lernen ihn etwas besser kennen. Er ist etwas merkwürdig, hört wie seine tote Mutter zu ihm spricht, in Reimen. Wieso nun dies? Weiterlesen. Anna wird vorgestellt. Anna war mit Miles auf Europareise, zusammen mit anderen Gewinnern eines Literaturpreisausschreibens für Schüler, dass 1980 stattfand. Man sollte über das Leben in 2000 schreiben, das nun freilich anders war als man es sich damals dachte, ebenso noch einmal 9 Jahre später. Anna nun kennt Miles aber nicht wirklich. Doch ihre Mailadresse war in Miles Handy eingespeichert, das mit dessen Jacke auf dem Sofa im Erdgeschoss verblieb. Wieso aber hat er ihre Mailadresse, obwohl er ihr nie eine Mail schrieb, obwohl sie sich schon wenige Jahre nach der Fahrt aus den Augen verloren, noch bevor es das Internet und also Mailverkehr gab? Weiterlesen. Die Familie Bayoude nun, hochgebildete Universitätsangestellte und gebürtig aus der Gegend um York, keineswegs aus Afrika, haben eine altkluge und vorwitzige Tochter, Brooke. Ein Wirbelwind, auch intellektuell, vielleicht die heimliche/ eigentliche Heldin der Geschichte, findet vieles interessant und geht diesem nach und findet vielleicht auch etwas heraus. Das aber können wir nur herausfinden indem wir, na? Genau: Weiterlesen.
Und das macht Spaß! Denn die Autorin schreibt recht witzig, dabei aber keinen Klamauk. Denn dafür sind viele der Wendungen in der Geschichte zu tragisch, und zu realistisch um das ganze zum „urbane[n] Märchen“ zu machen, für das es die New York Times befand. Zugestanden, der Plot ist in seiner Hauptsache recht skurril oder gar grotesk. Aber auch wenn über manch Detail hinweggegangen wird, etwa ob jenes Gästezimmer über ein separates Badezimmer verfügte, warum zu Anfang die Bewohner des Hauses nicht die Polizei den ungewollten Untermieter entfernte und wie man so einfach eine alte, kranke Frau aus einem Hospital (auf ihren Wunsch) befreien kann, in seiner Gesamtheit ist das alles spannend und liebevoll erzählt. Besonders wenn Brooke und die ältere Dame aus dem Krankenhaus aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen ist diese Form des Zurückerinnerns und dem Auftauchen aus der umfänglichen Vergangenheit in die Gegenwart des kleinen Ereignens ein sehr Gelungenes.
Auch sehr interessant sind die Gespräche, welche die Figuren führen und besonders das, was darin nur angedeutet wird. Wer aufmerksam ist, kann hier Antworten finden und was erst etwas wirr angeordnet wirkt, wird verständlich und wichtig, selbst ein lakonischer Nebensatz. Dabei werden Lebens-Ausschnitte aus drei bis vier Generationen von Engländern vorgestellt. Flashbacks, die mit unter schockierend eindringlich sind, etwa eine Szene mit der später suizidalen Mutter Marks. So unmittelbar und plötzlich wie sich auch die Figuren nach und nach in eine Ordnung setzen, da ihre Lebensfäden zu dem einen zentralen Knoten führen. Das nebenbei einiges Wissenswertes über London und dessen Geschichte erfahrbar wird, sei hier nur am Rande erwähnt.
Worauf jedoch leider noch hingewiesen werden muss ist, dass die obig angesprochenen Erzählstränge etwas weit herrühren, um sich dann nur lose dem Hauptstrang zuzugesellen. Eine Verbindung die mitunter nur auf Andeutungen beruht, die nicht weiter verfolgt werden, ein bisschen schade, dies. Andererseits natürlich die Möglichkeit der Spekulation bereithaltend.
Bis auf die etwas merkwürdige Auslassung der Zeichensetzung bei direkter Rede und das eben Erwähnte, ist dies jedoch ein sehr schönes und empfehlenswertes Buch. (Weiter-)Lesen! (Text: Thomas Treichel)